Richard Wagner, die Treppen & der lange Lauf
Sonntagmorgen, 9 Uhr, und ich stehe schlotternd am Ententeich. Kein Volkslauf wartet auf meine ruhmreiche Beteiligung, keine Flugreise hat mich zu einem Lauf in wärmere Gefilde entführt, nein, auf mich wartet der trostlose Trainingsalltag einer Marathon-Vorbereitung. Die Einheit, die bei mir noch weniger Begeisterung auslöst, als Rumpfübungen oder Tempointervalle, das läuferische Elend in seiner ausgedehnten Form – der lange Lauf! Da die Beschreibung eines autistischen Dreistundenlaufes in etwa so unterhaltsam ist, wie eine Wurzelresektion beim Zahnarzt, wird dieser Beitrag auch Themen behandeln, die sich abseits und sogar unter der Laufstrecke abspielen und zwischen Runners-High und totaler Erschöpfung im blutleeren Hirn eines Läufers noch Platz finden.
Der lange Lauf heute hat zumindest den Vorteil einer abwechslungsreichen Strecke durch ein paar der schönsten Ecken im Westen Hamburgs. In den diversen Auswertungsportalen für GPS-Uhr und Handy-App, ohne die der moderne Läufer heute nicht mehr auskommt, nenne ich sie die „große Elbrunde“ und sie beginnt direkt hinter unserem Haus in meinem Laufrevier dem Klövensteen, einem Mischwald am westlichen Rand der Hansestadt. „Heute herrscht aber reger Grenzverkehr“, denke ich, während ich die Brücke an der Schnellstraße Richtung Hamburg überquere und eine Vielzahl von Hundebesitzern, Spaziergängern und Stöckchenschleifern erblicke. Versteht mich nicht falsch, im Gegensatz zu Hajo Schumacher, der Mutti aller Laufkolumnisten, vielen besser bekannt unter seinem Pseudonym „Achim Achilles“, habe ich überhaupt nichts gegen Nordic Walker und nehme mir sogar raus, sie freundlich zu grüßen, wenn sie mir im Wald begegnen. Hin und wieder kommt aber auch bei mir die Frage auf, warum man diese Aluröhren überhaupt kauft, wenn man sie dann doch nur lustlos hinter sich her schleift? Naja, jedem das Seine und allemal besser als jene, die phlegmatisch an ihren Sofas kleben.
Ein intensiver Torfgeruch steigt mir in die Nase, nein, nicht beim Passieren der Walker, sondern während ich durchs Schnaakenmoor in Richtung Wildgehege laufe. Zur Linken eine weite Lichtung mit dutzenden von Wattebäuschen, die mich graskauend anblöcken und gelangweilten, kurzbeinigen Pferden, die auf ihren nächsten Einsatz als Kleinkindtransportmittel an der Ponywaldschänke warten. Es folgen Rotwild, Dammwild, Mufflons und Wildschweine bevor die ersten Zeichen von Zivilisation auftauchen und – nanu – bin ich jetzt in Bayreuth gelandet? Rheingoldweg, Tannhäuserweg, Lohengrinweg, Siegfriedstraße und Kriemhildstraße huschen in weißen Lettern auf blauen Schildern an mir vorüber. In den noblen Elbvororten hat man bei der Namensgebung offensichtlich eine hohe Affinität zum Werk von Richard Wagner bewiesen und ich ahne noch nicht, dass dies nicht der letzte Kontakt mit dem streitbaren Komponisten ist.
Entlang des Grenzwegs zwischen Wedel und Hamburg geht es zur Elbe und ich biege nach links auf den wohl schönsten Teil des Elbwanderwegs. Der Otto-Schokoll-Höhenweg windet sich an den Hängen oberhalb der Elbe und gibt den Blick frei auf die dicken Pötte, die sich langsam durch den Nebel die Elbe hochschieben. Die feuchte Luft dämpft die Geräusche auf ein Minimum und taucht die Landschaft in ein seltsam surreales Ambiente. In der Ferne hört man ein leises Schiffshorn und irgendwo da unten am Strand bellt ein unsichtbarer Hund. Der Weg hinunter zum Leuchturm Wittenbergen ist gesäumt von alten Bäumen, die mit ihren knorrigen Ästen und den vom Wind freigelegten Wurzeln aussehen, wie die Heimat von Elfen, Gnomen und Hobbits aus Mittelerde. Welch perfekter Ort für eine Fotoproduktion, dachte ich im vorletzten Spätsommer und habe einen in Opernkreisen nicht ganz unbekannten Tenor ans Elbufer geschleppt, um genau dort die Fotos für sein Album fotografieren zu lassen. Ein Album mit Arien aus Parsifal, Lohengrin, den Meistersingern und der Götterdämmerung und das Album hieß, wie sollte es anders sein, schlicht „Wagner“.
Parallel zum Fluß geht es weiter in Richtung Blankenese, dem Stadtteil der seine Häuser so schön am Geesthang aufreiht und dessen gediegenes Treppenviertel auch weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. Jeder der schon mal den Blankeneser Heldenlauf, einen der schönsten Halbmarathons in Hamburg mitgelaufen ist, weiß was diese Treppen und „Berge“ am Elbufer für einen Läufer bedeuten. Während sich die erste Hälfte der Stecke noch zurückhält entfaltet sie im zweiten Teil ihre ganze Pracht. „Polterberg“ und „Falkenschlucht“ heißen die Abschnitte, die dem Läufer alles abverlangen und die letzte Kraft aus den Beinen saugen. Auch wenn ich mich Jahr für Jahr aufs Neue quäle, um die Treppen im Schneckentempo hochzuschleichen, so ist es doch genau das, was den Heldenlauf zum „Helden“-lauf macht – die Steigungen und die Treppen. Also bitte liebe Heldenzentrale lasst die Strecke genau so wie sie ist und versucht sie nicht zu „entschärfen“. Apropos Treppen, heute ist der 1. Februar und da beginnt die Aktion „Nimm die Treppe“ der geschätzten (neuerdings leider Ex-) Bloggerin Sandra Mastropietro, in der es darum geht, den gesamten Februar jede Rolltreppe und jeden Fahrstuhl zu meiden, wie der Teufel das Weihwasser.
In einem Laufblog dazu aufzurufen, ist zwar ein wenig so, als würde man die sprichwörtlichen Eulen nach Athen tragen, aber auch ich staune nicht selten, wenn ich auf meinem Weg ins Büro am Bahnhof Altona aussteige und sehe, wie viele junge, gesunde und fit aussehenden Menschen sich lieber in der Wartegemeinde vor den Rolltreppen einreihen, statt die verwaiste Treppe daneben zu nutzen. Und wie man ernsthaft eine abwärtsfahrende Rolltreppe nutzen kann, wenn man nicht gerade schwer bepackt oder in seiner Mobilität eingeschränkt ist, bleibt mir ein komplettes Rätsel. (Wobei, fragt mich evtl. noch mal am Tag nach einem Marathon. 😉 ) Richtig absurd wird das degenerierte Verhalten aber, wenn Leute mit dem Auto ins Fitnessstudio fahren, um sich dann beim Spinning so richtig auszupowern oder den Fahrstuhl nutzen bevor sie ihre Übungen auf dem Stepper absolvieren. Es geht also schlicht darum, wieder mehr Bewegung in den Alltag zu integrieren und selbst bei mir, dem durchgeknallten Langstreckenläufer, der täglich mehrfach aus unzähligen Gründen zu den Kinderzimmern im ersten Stock aufbrechen muss, habe ich noch ungenutztes Potenzial entdeckt und so nehme ich jetzt auch im Büro ausnahmslos die Treppen in den vierten Stock und versuche auch sonst keine Stufe auszulassen. Ich bin gespannt wie viele da in einem Monat zusammenkommen und werde versuchen sie alle zu zählen.
Aber zurück ans Elbufer. Obwohl es mich durchaus nach Russischem Rauchtee und den herrlichen Scones mit Clotted Cream aus Lühmanns Teestube gelüstet, werde ich diese Treppen hinauf nach Blankenese nicht erklimmen, sondern laufe weiter elbaufwärts. Kurz vor Teufelsbrück beginnt die feuchte Winterluft kleine Kristalle zu formen, die nach und nach zu dicken Flocken heranwachsen, um dann in einem kapitalen Schneeschauer zu gipfeln. Zeit für einen kleinen Getränkestopp an der Tankstelle unterhalb des Jenischparks. Eine Rhabarberschorle und ein paar Dehnübungen später, geht es mit den pompösen Fanfaren des „Walkürenritt“ im Kopf und einem heroischen Lächeln im Gesicht den grünen Hügel hinauf zum Jenischhaus. Ich male mir aus, wie heldenhaft und kraftvoll es aussehen muss, während ich mich zielstrebig durch den Schnee kämpfe. Eine dramatische Inszenierung. Das ganz große Theater! Die mitleidigen Blicke der Spaziergänger sprechen zwar eine andere Sprache aber es zählt einzig und allein, wie es sich anfühlt. Und dieser Moment fühlt sich einfach großartig an!
Leider hält diese Begeisterung nicht besonders lang und nur einen knappen Kilometer später am Loki-Schmidt-Garten werde ich so kurzatmig, als hätte ich mit dem Gatten der Namenspatin eine Schachtel Mentholzigaretten gepafft. Es läuft irgendwie nicht rund und die erste Gehpause lässt nicht lange auf sich warten. Das Dumme ist nur, es sind gerade mal gut zwei Drittel der Strecke geschafft, es ist kalt, es ist nass und ich bin viel zu weit von der wärmenden Dusche entfernt. Also Zähne zusammenbeißen und weiterlaufen. Linker Fuss, rechter Fuss. Durchhalten. Bolzplätze, Hockeyfelder und Kleingärten rauschen vorbei, das Einkaufszentrum und die Autohäuser lasse ich links liegen, hüpfe über die vierspurige Ausfallstraße, um dann erleichtert wieder in die Natur am Osdorfer Born einzutauchen. Am Horizont verschwimmen die Silhouetten der Plattenbauten, die dem Stadtteil sein zweifelhaftes Image verleihen, während ich weiter dem Bachlauf der Düpenau in Richtung Schenefeld folge. Mitten in der Bachniederung taucht plötzlich ein futuristischer grauer Klotz auf, der Physikern des Typs „Sheldon Cooper“ aus der „Big Bang Theory“ die Tränen in die Augen treiben dürfte. Es ist der European XFEL, ein Linearbeschleuniger und ein Aussenposten des Deutschen Elektronen-Synchrotron (desy) und verblüfft auch einen Nichtphysiker wie mich allein durch seine Dimensionen, denn er ist drei Stadtteile von seiner Basis in Bahrenfeld entfernt. Der erste Photonenstrahl soll 2015 hier unter meinen Füßen durch den Hamburger Sand gejagt werden, ein Gefühl von Star-Trek direkt an meiner Laufstrecke.
Eine andere Kopfgeburt von Gene Roddenberry hätte ich jetzt aber wirklich gerne zur Verfügung, das Beamen. Wo ist Scotty, wenn man ihn braucht? Vor mir liegen noch gut sechs Kilometer und meine Motivation ist irgendwo da unten beim Teilchenbeschleuniger verkümmert. Also ist doch noch ein Zwischenstopp im Einkaufszentrum fällig, nur kurz, auf einen Drink und etwas warme, keimgeschwängerte Umluft. Dummerweise war mir nicht bewusst, das heute Flohmarkt in den heiligen Hallen des Konsums ist und so stehe ich durchgeschwitzt in klammem Lauftextil zwischen irritierten Familienvätern und geparkten Rollatoren am Verkaufstresen des Backshops, um meine Flasche Zuckerwasser zu bezahlen. Schnell der Dehydration entgegenwirken etwas Kraft tanken und los geht’s auf die letzten Kilometer. Schnellstraße links, Felder rechts, noch ein paar Pferde samt Reiterinnen aufschrecken, so geht es nun ganz unspektakulär Richtung Heimat. Heiß duschen, lecker essen und den Rest des Tages Legosteine zusammenfügen. Dabei regelmäßig über den leichten Schmerz beim Niederknien und Aufstehen stöhnen und sich leise fragen „Wie willst du bloß in drei Wochen einen Marathon laufen?!?
In der Tat eine gute Frage, die ich evtl. gleich am nächsten Sonntag am Öjendorfer See stellen kann. An eine die es wissen muss – Sigrid Eichner, die dort ihren Marathon Nummer 1.878 laufen wird …
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